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Rustico Semione
Rustico Semione
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Rustico Semione
Umbau
Inmitten einer landschaftlichen Enge mit kluftigen Felsen, steinernen Bachbetten, weiten
landwirtschaftlichen Feldern und steilen Berghängen sitzt im Bleniotal das Rustico Semione. Die
typisch tessiner Architekturmerkmale der geschlossenen, körperhaften Erscheinung, des
organischen Erwachsens aus der Topografie, des geringen Fussabdrucks, der seitlich anliegenden
Holzlaube einfachster Art und der archaischen Granitschindeln sind erhalten, als würden Raum
und Zeit still stehen. «Hier wo des Blenios Wasser rauschen und mit den Wolken Grüsse
tauschen» scheint Rosseaus wilde Romantik konserviert.
Selbst beim Betreten des Hauses setzen romantische Bilder ein: Stuckarbeiten, Verse und
Fresken verehren den ehemaligen Weinbau, ein stark verrusster Kamin, abgenutzte Putze, leere
keramische Behältnisse und alte Fliesen erinnern an ein früheres, entschleunigtes,
gesellschaftliches Zusammenleben.
Ist der Besuchende Voyeur oder Erlebender? Die Grenzen sind verschwommen, mal fühlt man
sich distanziert beobachtend, mal tief involviert. Die architektonischen Eingriffe unterstreichen
diese changierenden Gefühlslagen. Sie sind auf das Notwendigste reduziert und bilden dennoch
eine neue Einheit. Sämtliche Innenwände sind rückgebaut, die räumlichen Unterteilungen der
Geschosse auf dem Niveau des Wohnbereichs aufgelöst. Entlang der Aussenwände sind alte
Fliesen, Farbanstriche und Malereien brailleartig erhalten. Ihr Belassen verleiht den Wänden eine
substanzielle Tiefe, die sowohl auf eine optische, bauliche als auch zeitliche Mehrschichtigkeit
hindeutet und den offenen Wohnbereich subtil gliedert.
Neben den Aussenwänden zoniert noch ein asymmetrisch platzierter, körperhafter Zylinder, der
sich durch alle Geschosse emporwindet und das elementare Rückgrat bildet – nicht nur räumlich,
sondern auch haustechnisch. Der Zylinder ist eine Art übergrosser Radiator, der in alle
Räumlichkeiten des Rusticos ausstrahlt und erlebbar ist. So schiebt sich im Erdgeschoss der
angefügte Küchenblock radial in den Wohnbereich, im ersten Geschoss formiert das Rund in
Kombination mit den offen stehenden Türen eine performative räumliche Zwischenzone à la
Hermann Czech—der Eintretende ist geschützt und stört die räumliche Integrität nicht—und im
zweiten Geschoss offenbart im Treppenraum ein humoristisches Fenster die Struktur: Das lokale
Weglassen einer Gipsplatte offenbart Holzständer, Ziegelsteine, Heizschlaufen und Lehmputz.
Die räumlichen, konstruktiven und formalen Lösungen sind den heutigen Bedürfnissen angepasst;
der Wunsch einer innenliegenden Treppe und der Temperierung für eine ganzjährige Nutzung als
Ferienhaus Kernpunkt aller Entwurfsentscheidungen. Auf den oberen Etagen sind gegenläufig zum
offenen Wohnbereich neue Wände eingezogen, um der fragilen Statik gerecht zu werden. Ein
sichtbares Fachwerk verleitet dazu, dass nicht nur behaltene Elemente Bilder evozieren. Es tritt
kräftig in Erscheinung und zeichnet den neuen Verlauf der Kräfte ab. Neben dem Fachwerk prägen
in den Zimmern Lasuren in salbeigrün, lachsrot, hellblau, violett, lavendel, und zitronengelb die
Stimmung. Die Farben sind von den lebendigen Anstrichen des Bestandes übernommen und
verdecken ganz bewusst die natürlichen und nüchternen Materialien nicht. Die substanzielle
Mehrschichtigkeit ist eine ständige Begleiterin des Besuchenden und Erlebenden.
Bei den Türen imitieren die unterschiedlichen Oberflächenbehandlungen typischen Täfer. Die neu
eingebauten Fenster in starkem Schwarz und intensivem Rot akzentuieren die Öffnungen ganz
nach einer weiteren hauseigenen Inschrift: «Preist ihn zu allen Stunden, der’s Fenster hat
erfunden».
Die architektonischen Interventionen sind mancherorts hervorgehoben, andernorts verschleiert.
Neben den Farben stechen auch die körperlichen Steigzonen in den Raumecken und die
Aufputzleitungen in Chromstahl ins Auge, während Flickstellen im Boden fast nahtlos eingefügt
sind. Doch selbst die Verhüllung hilft in Semione, um den gedanklichen und baulichen Gehalt des
Bestandes herauszuschälen. Der Eingriff sichert den Erhalt eines architektonischen Zeitzeugen
und pflegt eine Kulturlandschaft, welche zu verwildern droht.
Text von Fabian Tobias Reiner
Marianne Baumgartner
Luca Camponovo
Francesco Battaini
Umbau Rustico Semione
Verfahren: Direktauftrag
Ort: Semione
Planung/Ausführung: 2020-22
Ingenieur/Bauphysik: Peter Braun, normal office